Illustration von Harry Clarke für eine Londoner Ausgabe (1923)
Heute habe ich die Lektüre von „Tales of Mystery and Imagination“ von Edgar
Allan Poe (Boston, 1809-1849) beendet (1). Dabei gibt es eine kurze Erzählung mit
dem Titel „The Man of the Crowd“ ( „Der
Mann in der Menge“, auch „Der Massenmensch“). Diese
Erzählung fängt an:
„It was well said of a certain German
book that ‚er lässt sich nicht lesen’ –it does not permit itself to be read.
Am Ende der Erzählung, schreibt E.A.Poe auf was für ein Buch er sich
bezieht: Hortulus Animae cum Oratiunculis
Aliquibus Superadditis von Grünninger.
Johannes Reinhard,
alias Hans Grüninger ( Markgröningen,
1455-Straßburg, 1532), war ein
deutscher Buchdrucker
und Verleger.
Hortulus Animae (Seelengärtlein) war der lateinische Titel eines spätmittelalterlichen Gebetbuches, das auch auf Deutsch erhältlich und Anfang des 16. Jahrhunderts weit verbreitet war.
Hier
nahm Poe diesen
Satz ( „er lässt sich nicht lesen“) um zu
bedeuten, dass das Buch zu
schockierend für einen Leser, um es vollständig durchzulesen war.
In der Einleitung der Erzählung Poes wird der
Leser unter Bezugnahme auf den „Hortulus
animae“ darauf vorbereitet, dass es Geheimnisse gebe, die zum Glück ebenso
unergründlich seien wie dieses Buch unlesbar. Dann stellt sich der namenlos
bleibende Ich-Erzähler als ein Flaneur vor,
der das abendliche Treiben auf einer großen Straße Londons durch das Fenster
eines Kaffeehauses beobachtet. Gerade von einer Krankheit genesen,
genießt er diesen Zustand mit Zeitung und Zigarre und beschreibt detailliert
die verschiedenen Schichten vorbeiströmender Menschen – von den
Geschäftsleuten, Advokaten und Adligen abwärts über die besseren und die
weniger guten Angestellten zu den Arbeitern, den Taschendieben und Huren.
Ermöglicht wird dieser soziologische Querschnitt durch die Gasbeleuchtung,
die die Menschen bis tief in die Nacht hinein auf den Straßen hält und
beobachtbar macht. Die Aufmerksamkeit des Beobachters wird nun durch einen ganz
besonders faszinierenden Mann von etwa 70 Jahren gefesselt. Von ihm sagt der
Erzähler:
Ich habe in meinem
ganzen Leben kein zweites (Antlitz) gesehen, das ihm auch nur im entferntesten
glich. Aber ich erinnere mich sehr wohl, dass gleich mein erster Gedanke bei
seinem Anblick war, dass jeder Maler, der nur immer den Teufel malte, dies
Gesicht allen künstlerischen Darstellungen des Satans vorgezogen haben würde.
Der Erzähler verlässt das Kaffeehaus und
folgt diesem Mann, der äußerlich zerlumpt gekleidet ist, doch unter den Lumpen
trägt er, wie im Licht einer Gaslaterne gut zu erkennen ist, qualitativ gute
Wäsche, und es schimmern ein Diamant oder ein Dolch hervor. Von rätselhafter
Unruhe getrieben, durcheilt der schäbige Alte die Stadt, es beginnt zu regnen,
aber den Erzähler stört das nicht, der Alte biegt in Seitenstraßen ein,
wechselt oftmals die Straßenseite, dreht mehrere Runden auf einem hell
erleuchteten Platz, rennt dann scheinbar ziellos und dennoch zielstrebig durch
ein Kaufhaus, stürzt sich in das Gewühl des Publikums, das aus einem Theater
quillt, und eilt schließlich stadtauswärts
...in das
widerwärtigste Viertel Londons, wo alle Dinge den hässlichen Stempel
trostlosester Armut und abscheulichster Verkommenheit tragen. In dem trüben
Lichte einer vereinzelten Laterne bemerkte man alte, hohe, wurmstichige,
hölzerne Behausungen, die dem Einsturz nahe schienen und so unordentlich und
willkürlich umherstanden, dass es einen Weg, der den Namen Straße verdient
hätte, gar nicht gab. Die Pflastersteine waren durch das frei wuchernde Gras
aus ihren Fugen gedrängt. Unrat verweste in den verstopften Rinnen. Die ganze
Atmosphäre schien von Verwahrlosung vergiftet.
Hier bahnt er sich seinen Weg durch das
Gewühl von Trunkenbolden vor einer Spelunke. Als sie schließt, kehrt er in die
Stadt zurück, zurück auf die jetzt leerere Hauptstraße, wo der Erzähler ihn
entdeckte und die Verfolgung aufnahm. Der erschöpfte Erzähler gibt auf:
Ich trat dem Wanderer
fest entgegen und blickte ihm unverwandt ins Gesicht. Aber er bemerkte mich
nicht, sondern setzte seine feierliche Wanderung ruhig fort. Jetzt folgte ich
ihm nicht weiter und blieb in tiefem Nachdenken stehen. "Dieser alte
Mann", sagte ich endlich zu mir selbst, "ist die Verkörperung, ist
der Geist des Verbrechens. Er kann nicht allein sein. Er ist der Mann in der
Menge. Es wäre vergebens, ihm noch weiter nachzugehen, denn ich würde doch
nichts von ihm, nichts von seinen Taten erfahren."
(1) Tales of Mistery and Imagination,
by Edgar Allan Poe, with an Afterword by Jonty Claypole. Barnes and Noble
Books, New York, 2003.
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