Es gibt eine Person Bernard Schlinks (1944, Bielefeld), die
die Familiengemeinsamkeit liebt, und eines Tages macht sie die folgende
Überlegung:
“...aber ich wünsche
mich mehr Familiengemeinsamkeit. Ich wünsche mich die Tage mit Kate und Rita
wären nicht nur einmal in der Woche mein Leben, sondern morgen wie heute und
gestern.
Alles Glück will
Ewigkeit? Wie alle Lust? Nein, es will Stetigkeit.” (1)
Diese Idee, die ewige Lust, hat Frederick W. Nietzsche
(1844-1900) schon ausgedruckt:
“... Tief ist ihr Weh –
Lust – tiefer noch als
Herzeleid:
Weh spricht: Vergeh!
Doch alle Lust will
Ewigkeit --,
--Will tiefe, tiefe
Ewigkeit !” (2)
Zarathustra (Nietzsche) hat sich auf die Idee der Lust
konzentriert, die ihm attraktiver als Glück schien. Er hat der Lust das Weh
entgegengesetzt. Unterdessen etabliert Schlink einen Kontrast zwischen
Glück-Lust und Stetigkeit.
Über die gleiche Idee hat schon Johann Wolfgang Goethe
(1749-1832) nachgedacht:
“... Solch ein
Gewimmel möcht ich sehn,
Auf freyem Grund mit
freyem Volke stehn.
Zum Augenblicke dürft’
ich sagen:
Verweile doch, Du bist
so schon ! ...” (3)
Faust (Goethe) sagt diese Worte nur einen Moment bevor er
tot ist, am Ende seines langen Lebens mit Höhen und Tiefen (ich bitte alle mich
verstehen zu wollen). Hier erwähnt Goethe nicht Lust oder Glück oder Schmerz.
Er kontrastiert nur Leben und Tot.
Und schliesslich (für jetzt und für mich), wollte Joan
Maragall (1844-1911), um die Absicht Goethes zu interpretieren, in einem seiner
repräsentativsten Gedichte schreiben:
“... Aquell que a cap
moment li digué: ‘—Atura’t’
Sinó al mateix que li
dugué la mort,
Jo no l’entenc,
Senyor; jo, que voldria
Aturar tants moments
de cada dia
Per fê’ls eterns a
dintre del meu cor...!” (4)
Und hier glaube ich, dass Maragall irrt, als er behauptet,
dass Faust nur ‘Verweile doch!’ zu
letztem Augenblick seines Lebens (jenem vor seinem Tod) gesagt hat.
Es gibt eine weitere mögliche Interpretation (und
plausibler). Die Benutzung des Modalverb “dürfen” heisst dass Faust ein
Erlaubnis braucht um “Verweile doch!”
sagen zu können. Und diese Erlaubnis besteht in der Situation “... auf freyem Grund mit freyem Volke
stehn... “
Wie gesagt, Faust, der sich selbst nahe dem Tod weiss,
erinnert sich an andere Zeiten seines Lebens (oder an Zeiten die er gerne hätte
leben wollen) und dachte, dass es schön
wäre, wenn diese glückliche Erfahrungen ewig sein würden. Das bedeutet nicht , dass Faust
gern genau nur den Moment seines Todes verlängern wolle. Denn das würde die
ewige Agonie bedeuten... deshalb würde
nicht nur Maragall sondern auch sonst niemand das verstehen. Niemand würde es
akzeptieren.
Vielleicht war diese goethische ursprüngliche Idee (die
Idee, auf dem laufenden zu leben, und
tatsächlich das Leben zu leben) zu dreist und zu heidnisch für die katholische
bürgerliche Moral der Zeit und des Orts, wo Maragall lebte ? Oder vielleicht irrt
Maragall nicht. Vielleicht lügt er nur, wie alle Dichter lügen ... wer weiss ?
(1)
Sommerlüge,
Geschichten, “Das Haus im Wald”, B. Schlink, Diogenes Verlag AG, Zürich 2012.
(2)
Also
Sprach Zarathustra, ein Buch für alle und keinen (Dritter Teil, Das andere Tanzlied und Vierter und letzter Teil, Das trunkne Lied) F. W. Nietzsche,
Goldmann Verlag, nach den Anmerkungen und bibliographischen Hinweisen von Peter
Pütz.
(3)
Faust II (Fünfter Akt) J.W. Goethe, Sämtliche Werke,
nach Epochen seines Schaffens,
Münchner Ausgabe, Letzte Jahre, 1827-1832;
Carl Hauser Verlag, München-Wien, 1997.
(4)
Antologia
poètica, “Cant espiritual”, J. Maragall, a cura d’Arthur Terry, Edicions
62, 1981, Barcelona.
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